Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft in Graz

Denken und Wahrnehmung im menschlichen Leben

Als Mensch stellen wir uns der Welt mit unserem Wesen gegenüber. Wir können wahrnehmen, wir denken, wir fühlen und wir handeln in der Welt. Doch die Hintergründe unseres Wirkens sind uns verborgen. So wie sich der Mensch vorerst der Welt gegenüberstellt ist er ein eingeschränktes Wesen. Er lebt mit seinem physischen Körper in den Begrenzungen des Raumes, er lebt in der Zeit und ist an sie gebunden, und er kann von seiner Umwelt nur Ausschnitte wahrnehmen und erkennen. Die Sinnesorgane ermöglichen ihm eine gewisse Bandbreite der Wahrnehmung seines Umfeldes, das er aufnimmt und in seine Erfahrungen einordnet. In der Philosophie der Freiheit (GA 4, Kapitel 6, Die menschliche Individualität) beschreibt Rudolf Steiner den Vorgang des menschlichen Erkennens. Am Erkenntnisakt sind die menschliche Wahrnehmung und das Denken beteiligt. Das Denken ermöglicht, zu jedem Wahrnehmungsvorgang den zugehörigen Begriff zu finden. Im Augenblick der Beobachtung steht der Mensch der vollen Wirklichkeit gegenüber. Im weiteren Erkenntnisvorgang wird jedoch der Begriff durch das Einzelwesen individualisiert und lebt in der Vorstellung weiter. Die Vorstellung ist nur mehr ein Abbild der Wirklichkeit, sie verhüllt die Wirklichkeit. Durch das Fühlen beziehen wir den Wahrnehmungsprozess ganz auf uns selbst. Im Fühlen wird der Mensch ganz Individuum und die Begriffe bekommen ein Eigendasein im Menschen. Dadurch kann der Mensch ganz ein Eigenwesen werden. Die Aufgabe der Anthroposophie in Bezug auf die menschliche Entwicklung ist es, die reine Wahrnehmung und das von den Vorstellungen befreite Denken wiederzugewinnen. Dazu gibt es von Rudolf Steiner Anleitungen, zum Beispiel in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ (GA 10). Durch entsprechende Übungen kann der Mensch sein Denken verstärken, sodass der Erkenntnisakt erweitert und vertieft wird. Durch die reine Wahrnehmung ebenso wie durch das reine Denken, werden geistige Erlebnisse möglich. In diesem wesenhaften Denken findet der Mensch auch das Fühlen und Wollen und kann sich so mit dem Weltganzen verbinden.

Rudolf Neuwirt