Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft in Graz

Anthroposphie als Weg

Anthroposophie ist ein Schulungsweg.

Ein Schulungsweg hat mit Entwicklung des Menschen zu tun. In jedem Menschen schlummern Fähigkeiten, die durch Schulung entwickelt werden können.

Der Schulungsweg, der uns durch Rudolf Steiners Anthroposophie gegeben ist, zeichnet sich dadurch aus, dass er durchschaubar, einsehbar und im praktischen Leben anwendbar ist.

In dem Büchlein „Wie erlangt man Erkenntnis der Höheren Welten“ sind individuell wählbare  Übungswege zusammengefasst. Wesentlich für den Schulungsweg sind die von Rudolf Steiner sogenannten „Nebenübungen“. Mit diesen Übungen schafft er die Grundvoraussetzung und die seelische Konstitution für weitere meditative Anstrengungen.

Ein Übungsbuch besonderer Art  stellt Rudolf Steiners  „Philosophie der Freiheit“ dar. Hier wird eine Entwicklung des Denkens angestrebt, die es von den engen Vorstellungen löst und die Freiheit des menschlichen Willens möglich macht.

Basierend auf Rudolf Steiners Anregungen haben moderne Denker wie Georg Kühlewind (Ungarn),  Athur Zajonc (USA) und Yeshayahu Ben Aharon (Israel) Übungen entwickelt, die einen Einstieg in die Meditation und damit eine Möglichkeit bieten, sich die geistigen Welten zu erschließen. Das wird mehr und mehr unabdingbar, sollen die  Probleme dieser Welt bewältigt werden.

In den 100 Jahren seit Rudolf Steiners Anregungen zum Schulungsweg hat sich das  Bewusstsein der Menschheit rasant gewandelt. Diese ging durch zwei Weltkriegskatastrophen und erfährt heute durch Elektronik und Nanotechnologie eine Umwälzung des Lebensstils. Denk- und Handlungsstützen, Erlebnissurogate sind nicht nur Hilfen für die Lebensbewältigung, sondern eine große Herausforderung an die Integrität des Menschen. Das vielfältig beanspruchte  Bewusstsein hat es schwer, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren. Die Seele ist  einem solchen Bombardement von Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt, dass es schon eines gezielten Kraftaufwandes bedarf, überhaupt mit einer Konzentrationsübung zu beginnen.

Der Wille wird ständig durchkreuzt von mannigfaltigen Ablenkungen. Wie oft handeln wir gegen unser besseres Wissen, oder anders als vorgenommen, sagen das eine, tun jedoch das andere. Wie oft beginnen wir etwas mit gutem Vorsatz, führen es aber nicht zu Ende, weil die Willenskraft fehlt. Wie oft versanden gute Impulse, gehen in dem Alltagsgetöse unter.

Der anthroposophische Schulungsweg richtet sich darauf, die Autonomie und die Authentizität des Menschen so zu stärken, dass sich die Seele von mehr oder weniger bemerkten Automatismen und Fremdbestimmungen lösen kann. In diesem Prozess werden Denken, Fühlen und Wollen als selbständige Seelenbereiche erfahren, herausgehoben aus ihrer Verstrickung und gegenseitigen Behinderung. Das geistige, künstlerische und moralische Potential des Menschen wird frei, sein Schicksalsweg bewusster. Der Übende lernt, seine Gedanken zu kontrollieren, Herrschaft über seinen Willen zu erlangen, seelisches Gleichgewicht zu bewahren, Positivität in allen Lebenslagen zu entwickeln, um sich um Vorurteilslosigkeit und geistige Offenheit zu bemühen. Diese Grundvoraussetzungen sind schon  meditativen Praxis, die sich an Hand von Wahrnehmungs- und Denkübungen, an Bild- und Mantren-Meditationen weiter entwickelt.

Hier einige Zugänge zum anthroposophischen Schulungsweg, wie sie in Grazer Arbeitsgruppen gepflegt werden:

Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ lebt in Denkbewegungen. Das sind der Lebenspraxis entsprechende Begriffe, aus deren Sicht die gängigen Vorstellungen und philosophischen Denkgebäude beleuchtet werden. Diesen wird einfühlsam nachgegangen, bis sich ihre Engen und Widersprüche zeigen. Das sich so übende Denken überspannt die Vorstellungen, befreit sich von ihnen und wird lebendig. Es erfährt den Versuch, eine Vorstellung durch eine andere zu erklären und zu ersetzen als Falle, und wird auf seine eigene, die Vorstellungen erst hervorbringende Quelle aufmerksam. Daraus ergibt sich, dass die  Texte der Philosophie der Freiheit nicht durch Assoziationen, Anlehnungen an Bekanntes zu erschließen sind, sondern nur durch authentisches, existentielles Verstehen. Eine Methode dazu ist, den Textabschnitt zweimal zu lesen, dann in eigenen Worten wiederzugeben und von der Gruppe ergänzen zu lassen. Erst dann folgt das Gespräch aus Betroffenheit, die wahrgenommen wird und gegenseitig weiterbildet.

Georg Kühlewind zeigt an Hand der Entwicklung des Kindes, der Sprachwissenschaft, von religiösen und philosophischen Texten und von Kunstbetrachtungen auf, wie Vorstellungen und Wahrnehmungen Zeichen sind, die hinweisen wollen auf den Sinn. Die Bedeutung selbst kommt aus einem entgegennehmenden, empfangenden Denken, das vor und über dem Feststellen lebt. Das lebendige Denken bedarf der gesteigerten Aufmerksamkeit, die durch zielgerichtete Konzentration heranwächst um sich dann in leeres, offenes Bewusstsein umzuwenden.

Texte mit alltäglichen oder abstrakt erscheinenden Ausgangspunkten, die in verblüffende und paradoxe Aussagen münden, bereiten kurzgefasste Meditationen vor. Es wird evident, dass das „normale“, an Vorstellungen haftende Bewusstsein krank macht, wenn es – in welcher Betriebsamkeit auch immer – in diesem Zustand verweilen möchte.

Yeshayahu Ben Aharon setzt sich unmittelbar mit dem Zeitgeschehen auseinander, mit den geistes- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisfronten und mit den Auswirkungen der Kleinstteiltechnik, die zunehmend und tiefgreifend das Leben der Menschen verändert. Dem stellt er gegenüber, dass dem heutigen Menschen die Möglichkeit gegeben ist, seine ganz individuelle Ursprünglichkeit zu erfahren. Ein solches Erlebnis kann sich in jeder alltäglichen Begebenheit entzünden, kann weiterführen zum Verständnis der biographischen Vergangenheit und der anstehenden Lebensaufgaben, ist jedenfalls sinnstiftend, Ankerpunkt und richtungsweisend, Quelle für gesunde Gestaltung des Zusammenlebens. Das „Ereignis“ klopft ständig an, alleine überhören wir das meist, auch wenn wir einen geistigen Schulungsweg verfolgen. Denn die Zugriffe auf unser Selbst von außen sind im Übermaß gewachsen. Schritt gehalten hat dem die Fähigkeit, in den anderen Menschen hineinzuhören, unbeirrt durch seine Wirrnisse ihm auf den Grund zu schauen. Die Wirkung ist sozial potenzierend. Der Andere erlebt sich anerkannt und initiativ – eben seinem Ursprung nahe. Ich selbst erweitere mich, erwache am anderen, bin werdend, und so erst Mensch. Die Offenheit bildet in der Gruppe Vertrauen, auch über die seelischen Wirrnisse im Denken, Fühlen und Wollen kann gesprochen werden, denn der Blick haftet nicht daran, sondern stärkt sich am Wesentlichen. Die Parzival-Frage „Oheim, was wirret Dir“ ist beiderseitige Heilung und legt die individuellen Schicksals- und Schulungswege frei.

In der Anthroposophischen Gesellschaft besteht eine Einrichtung, in der Gemein-schaftsbildung auf Grund eines meditativ zu erschließenden Mantren- und Zeichengutes gepflegt wird, die „Hochschule für Geisteswissenschaft“. Sie stärkt für die Tätigkeit im praktischen Leben. Sie ist in einen formalen Rahmen gestellt, um diese Bestrebungen zu verdichten.

Literaturhinweise

Rudolf Steiner:
GA 10 -  „Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten“
GA 16 -  „Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen – 
                        Die Schwelle der geistigen Welt.“

Georg Kühlewind:
„Die Wahrheit tun“
„Bewusstseinsstufen“ u.a.

Arthur Zajonc: „Aufbruch ins Unerwartete“

Yeshayahu Ben Aharon: „Die neue Erfahrung des Übersinnlichen“ u.a.

Volker Mastalier